Wenn Langzeit Abstinente berichten, gewinnt man oft den Eindruck, ihre Abstinenz wäre ihnen vom ersten Tag an leicht gefallen.
Bei mir war dieses nicht der Fall. Die neu gewonnene Freiheit empfand ich oftmals als unangenehm. Die Freiheit war mir eine Qual und bedeutete harte Arbeit an meiner Persönlichkeit.
Nach Ende meiner Therapie hatte ich die Hoffnung, dass sich mein Leben nun sofort zum Besseren wenden würde. Dieses war nicht der Fall und ich musste feststellen, dass mich der Nichtkonsum eher belastete.
Dass ich nicht wusste, wie ich mein Leben ohne die Hilfe von Suchtmitteln zu führen habe. Zu tief hatte sich die alte Gewohnheit, geht es dir schlecht nimmst du etwas dagegen ein, in mir festgesetzt hatte. In schwierigen Lebenssituationen und auch in Momenten, die anderen als leicht erschienen, stellte sich der Wunsch nach Betäubung ein.
Wie in Autopilot verlangte mein Geist und mein Körper nach Erleichterung, verlangte er nach Vergessen.
In der Phase meines Nüchtern werden's half mir das Gedankengut der »Anonymen Alkoholiker«. Ihre Idee vom Leben im Jetzt wurde ein großer Trost.
Der Moment, so schwierig er sich für mich auch darstellte, ließ sich bewältigen.
War der Suchtdruck zu groß, grenzte ich diesen Zeitraum weiter ein. Es waren dann nicht mehr die 24-Stunden-Zyklen, in denen ich dachte.
Es galt den nächsten Moment trocken zu überstehen und in solchen Momenten half es, in halb- oder viertelstündigen Zyklen zu denken.
Sätze, welche ich mir in dieser Zeit sagte, lauteten wie folgt: »Dich betäuben kannst du auch später. Niemand kann dich daran hindern, dies zu tun. Die nächste halbe Stunde versuchst du aber erst einmal ohne Suff zu überstehen! Die Flaschenregale werden in dieser Zeit nicht leer geräumt sein, du kannst, wenn du es überhaupt nicht mehr aushältst, dann losziehen und etwas zu saufen kaufen.
Nachdem ich diese Art zu denken einige Zeit praktiziert hatte, stellte ich fest, dass die negativen Gefühle, dass meine Sauf wünsche, nach spätestens 20 Minuten verflogen waren.
Oftmals griff ich zum Telefon und rief einen Freund aus der Selbsthilfegruppe an. Wir trafen uns dann und verbrachten unsere Zeit miteinander.
Bill und Bob, die Gründungsväter der Anonymen Alkoholiker, hatten festgestellt, wenn man redet, braucht man nicht trinken. Dieses Konzept schien auch bei mir zu wirken. Sprach ich über meine Trink wünsche, redete ich über meinen Suchtdruck, verlor er an Macht.
Ich stellte dann fest, den Anderen ging es ähnlich. Auch sie litten zu bestimmten Zeiten unter Trink wünschen. Jeder hatte eine Art gefunden mit diesen Trink wünschen, um zu gehen. Viele dieser Lösungswege schaute ich mir von den anderen ab. Gerade die Freundinnen und Freunde, welche auf eine lange Abstinenz zurückblickten, waren mir eine große Hilfe. Hatten sie doch die Schwierigkeiten, welche mich ins Wanken brachten, gemeistert. Hatte sie schon Lösungswege gefunden und diese erfolgreich in ihrem Leben angewandt.
In den Jahren meiner Abhängigkeit war ich zum Einzelkämpfer verkommen. Ich hatte Lösungen nur in meiner begrenzten Welt gesucht. Heute weiß ich, dass dieses nicht möglich war. Lösungen bieten sich erst dann, wenn ich den Blickwinkel anderer auf mein Problem zulasse. Wenn ich bemüht bin zu verstehen, was andere zu ihren Lösungswegen geführt hat. Warum ihre Lösung funktioniert und ob ihr Lösungsweg evtl. für mein Problem anwendbar ist. Im eigenen Saft zu schmoren mag für einen Schweinebraten gut sein. Mich hatte diese Lebensführung ins Abseits geführt, hatte mir Wege der Erkenntnis versperrt.
All die vorigen Worte bedeuten nicht, dass mir all die Menschen, von denen ich mir Lösungsmöglichkeiten abschaute, sympathisch waren.
Zu Zeiten meiner Sucht hatte ich Probleme im Umgang mit meinen Mitmenschen.Teilweise war neidisch auf ihren Erfolg. Die Stellung, welche sie einnahmen. Die Anerkennung, welche sie fanden. Ich spürte immer eine Kluft zwischen mir und den Anderen.Diese Kluft überbrückte ich zur Zeit meiner Abhängigkeit mit Überheblichkeit und Arroganz.
Ich lebte wie hinter einer Panzerglasscheibe. Ich sah meine Mitmenschen, nahm sie wahr. Ich ließ sie nicht an mich heran.
Trat eine zu große Nähe ein, blockte ich ab. Ich stieß mein Gegenüber vor den Kopf. Ich machte ihn auf eine seine Schwächen aufmerksam, einen guten Blick für die Schwachstellen anderer war mir gegeben, und schaffte somit wieder die für mich nötige Distanz.
Eigentlich war ich über lange Zeiten meines Lebens beziehungsunfähig. Mein Ich war zu schwach ausgeprägt, als dass es einer Beziehung standhalten konnte. Entweder ich ordnete mich völlig unter und gab mein Ich zu Gunsten der Beziehung auf.
Hauptsächlich geschah dieses in meinen Liebesbeziehungen und führte dazu, dass Beziehungen zu Frauen immer ein großes Problem für mich darstellten.
In Momenten der Trunkenheit brach dann die sich in mir angestaute Wut heraus.Ich wurde cholerisch, machte der Partnerin ungerechtfertigte Vorwürfe, hackte auf ihren Schwachstellen herum und spielte den Unfehlbaren. Ich schrie sie an und es ist sogar vorgekommen, dass ich in meiner Verzweiflung über mich selbst zuschlug.
Diese Schläge galten dann nicht meiner Partnerin. Nein, sie galten mir. Sie schmerzten mich sehr und führten mich in tiefe Verzweiflung. Nach solchen Ausbrüchen kroch ich dann wieder zu Kreuze, machte mich klein und versuchte verzweifelt mein Handeln zu entschuldigen. Schob mein Verhalten dem Rausch zu. Ohne ihn wäre es niemals zu diesen Ausbrüchen gekommen.
Durch mein Trocken sein hatte ich gelernt, diese Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ich hatte gelernt mich wertzuschätzen, um so auch meinem Gegenüber Wertschätzung entgegen bringen zu können.
So konnte ich, obwohl ich oftmals Abneigung gegenüber anderen empfand, sehen, was sie gut machten. Ich konnte Wesenzüge an ihnen entdecken, die mir früher niemals aufgefallen waren, und so von ihnen lernen.
Auch heute bin ich noch gern alleine.
In diesem Alleinsein steckt aber nicht mehr das Gefühl von Einsamkeit. Ich fühle mich nicht mehr abgeschnitten und erlebe mich als Teil eines Ganzen. Führte mich damals das Gefühl des Andersseins in tiefe Verzweiflung, fühle ich heute eine Verbundenheit mit meinen Mitmenschen.
Im Alleinsein finde ich heute Kraft. Ich kann in Momenten des Alleinseins meinen Gedanken nachhängen, kann mich mit meiner inneren Welt befassen und hier Dinge entdecken, die mir große Zufriedenheit geben.
Im Alleinsein habe ich einen Weg gefunden, meiner Kreativität Raum zu geben. Im Alleinsein kann ich meiner inneren Vielfalt frönen. Kann mich in parallel Welten begeben. Kann vor mich hin träumen. Viele meiner Ideen entstehen im Alleinsein. Meine Gedanken sind dann ganz auf mich gerichtet, werden nicht durch andere Menschen störend abgelenkt. Ich brauche diese Zeit für mich wie der Fisch das Wasser. Hatte ich früher das Gefühl, ein geselliger Mensch werden zu wollen. Habe ich heute akzeptiert, nicht gesellig zu sein. Ich denke, jeder sollte hier einen Weg für sich finden und sich als der akzeptieren, der er ist. Viel zu viel Zeit geht verloren es immer wieder nur den Anderen recht machen zu wollen. Der Akt der Verbiegung kostet auf lange Sicht zu viel Kraft. Mich würde er wieder zum Suchtmittelkonsum verleiten. Heute weiß ich um die Begrenztheit meiner Kraft. Kann diese Begrenztheit annehmen und mein Leben so gestalten, dass ich glücklich bin.
Dieses Glück spiegelt sich in meinem Verhalten wieder und hat somit unmittelbaren Einfluss auf meine Mitmenschen. Ich trete ihnen heute wesentlich entspannter und freundlicher gegenüber. Betrachte den anderen nicht permanent als meinen Feind und bin im Umgang wesentlich entspannter.
Irgendwann tauchte der Suchtdruck überhaupt nicht mehr auf. Ich hatte gelernt, schwierige oder auch schöne Situationen ohne Trink wünsche meistern zu können.
Mein Seelenleben wurde ausgeglichener.Es dauert mindest 3 Jahre, bis ich mein nicht mehr Konsumieren können als Befreiung erlebte.Nach dieser Zeit erlebte ich plötzlich, dass mich mit zunehmender Nüchternheit der Stoff Alkohol und all die anderen Drogen, welche ich genommen hatte, nicht mehr interessierten.
Ich hatte das Gefühl, endlich frei und unabhängig zu sein. Endlich wurde mein Leben nicht mehr durch die Jagd nach der Droge bestimmt!
Ich wachte morgens ohne zu zittern auf.
Ich musste nicht mühsam Jägermeister, dass einzige was in der letzten Phase meines Alkoholismus am Morgen drin blieb, hinterwürgen, um meine Entzugserscheinungen zu lindern.
Ich konnte mich wieder an den Alltäglichkeiten des Lebens erfreuen.
War es mir in Saufzeiten eine Qual, den Gesang der Vögel ertragen zu müssen, wachte ich doch jeden Morgen mit dickem Schädel und Entzugserscheinungen auf und verlangte nach RUHE, öffnete ich nun des Morgen die Terrassentür und ließ den Tag hinein. Der Gesang der Vögel und das tägliche Erwachen bereitete mir plötzlich Freude. Ich stellte fest, das Leben ist schön!
Ich konnte plötzlich der Mensch sein, den ich über Jahre glaubte, verstecken zu müssen.Ich musste mir nicht mehr die quälende Frage stellen: Was habe ich gestern im Rausch angestellt? Bei wem muss ich mich heute entschuldigen.Endlich waren meine Worte von der Freiheit nicht nur hohles Geschwätz.
Endlich konnte ich frei entscheiden und musste nicht aus schlechtem Gewissen und aus der Notwendigkeit heraus, etwas wieder gerade rücken zu müssen, handeln. Als politisch denkender Mensch mit großem Drang zu Freiheit und Gerechtigkeit hatte ich den Jahren der Abhängigkeit all meine Prinzipien verraten.
Meine Freiheit hatte ich an mein Suchtmittel verkauft. Eine Tatsache, die ich über Jahre verleugnete. Sah ich meinen Alkohol- und Drogenkonsum doch in dieser Zeit den Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft. Trinken gegen das System. Gerechtigkeit ließ ich nur für mich gelten.
Andere Menschen, ob Freunde oder Familie, zog ich wie Schachfiguren auf dem Spielbrett meines Lebens hin und her.
Waren mir Menschen von Nutzen, stützten sie mich im dem was ich tat, waren sie gern gesehene Mitspieler.
Kritisierten sie mich, stellten sie mich und meinen Alkoholkonsum in Frage, wurden sie vom Brett gefegt.Eigentlich war ich zu dieser Zeit völlig unfrei und ein völlig selbstgerechter Mensch.
Nun endlich war ich, soweit wie es einem Menschen möglich ist, wieder Herr im eigenen Haus.War in der Lage meine Entscheidungen frei zu treffen und konnte mich vor meinen Mitmenschen ohne Maske zeigen.
Ein ehrlicher, offener Klaus erwachte zum Leben und stellte fest: Suchtmittel sind keine Lösung. Suchtmittel stellen das Problem dar und erst durch Beendigung des Suchtmittelkonsums lässt sich eine Lösung finden. Heute, nach dem ich etliche schwierige Lebenslagen ohne Suchtmittelkonsum gemeistert habe, spielt der Gedanke an Suchtmittelkonsum keine Rolle mehr in meinem Leben.
Ich bin zwar auf der Hut und weiß, ich bleibe mein Leben lang suchtgefährdet.
Der regelmäßige Besuch meiner Selbsthilfegruppe hilft mir dabei, dieses Bewußtsein wach zu halten. Eine echte Gefahr sehe ich nicht als gegeben. Das Verlangen nach meinen Suchtmitteln ist fast gänzlich verschwunden. Ab und an sehne ich mich nach einem Glas Wein zum Essen. Ich weiß, dieses werde ich nie wieder konsumieren können. Der Wunsch bereitet mir jedoch keine Probleme, erzeugt keinen Druck.
von Klaus D. Wehmeier
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