Lichtblick-in-Bielefeld
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Anja Mein Vater ist Alkoholiker

 

Angefangen hat alles vor 12 oder 13 Jahren, nach dem Tod meiner Oma, also der Mutter meines Vaters. Aber auch davor war mein Vater eigentlich die meiste Zeit immer sehr angespannt, oft schlecht gelaunt, sehr leicht reizbar und aufbrausend. So kam es mir jedenfalls vor. Da kam dann schon mal eine Schere angeflogen, wenn er einen Wutanfall bekam, oder es wurde Spielzeug zertrampelt. Später bekamen mein Bruder und ich daran die Schuld. Die Schere hat mich übrigens "nur" an der Stirn getroffen. Erst viel später ist mir bewusst geworden, das es ja im wahrsten Sinne des Wortes auch ins Auge hätte gehen könne. Die Wunde hat geblutet, und es wurde ein Pflaster rübergeklebt. Ich glaube, mein Vater hat sogar zu mir gesagt, ich solle im Kindergarten erzählen, ich sei hingefallen oder so. Aber genau kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Die Schramme war dann irgendwann nicht mehr zu sehen, aber ich kann es bis heute nicht vergessen.

Er hat mich und meinen Bruder oft angeschrieen und angebrüllt, und ist bei jedem kleinen bisschen, z. B. einem heruntergefallenen Teller, total ausgeflippt. Dann ist ihm auch schon mal die Hand ausgerutscht. Ich hatte schon immer eine Heidenangst vor meinem Vater. Entspannen konnte er sich schon damals nur mit seinen 3 oder 4 Flaschen Bier am Tag. Nach dem Tod meiner Oma fing er dann an, mehr und mehr zu trinken. Es war ein schleichender Prozess bis hin zur Alkoholabhängigkeit. In dieser ersten Zeit des exzessiven Trinkens gab es oft superpeinliche Szenen. Mein Vater torkelte und kroch in seinem Suff vor unserem Haus auf der Wiese herum, unfähig, noch irgendeinen Schritt zu gehen geschweige denn die Eingangstür zu finden. Und das vor den Augen aller Nachbarn. Oder die Szene, als mein Vater im absoluten Vollrausch entweder gar nicht erst auf die Toilette raufgekommen ist oder runtergefallen ist und dann die ganze Zeit mit runtergezogener Hose total besoffen im Bad rumlag.

Einmal, wir waren in unserem Garten gewesen und wollten nach Hause fahren, aber mein Vater war mal wieder bis oben hin abgefüllt, ist er mit mir ins Auto gestiegen und losgefahren. Meine Mutter war so wütend, das er soviel getrunken hat und in diesem Zustand noch Auto fahren wollte, sie ist aus dem Auto ausgestiegen und mit Bus und Bahn nach Hause gefahren. Ich war wie gelähmt vor Angst und bin im Auto sitzen geblieben, aber wie gerne wäre ich auch ausgestiegen und mit meiner Mutter mitgefahren. Aber damals habe ich es nicht gewagt, irgendwelche Widerworte gegen meinen Vater zu geben. Es ist ein Wunder, das damals alles gutgegangen ist. Mein Vater legte einen äußerst rasanten Fahrstil an den Tag. Ich weiß noch, das mein Vater nicht mehr auf der Straße, sondern auf dem Bürgersteig und über irgendwelche Rasenflächen gefahren ist. Die ganze Zeit habe ich gerufen, er solle aufpassen und jetzt abbiegen usw. Irgendwie muss er in seinem Suff dennoch kapiert haben, was ich zu ihm gesagt habe, denn er hat komischerweise nach meinen Anweisungen gehandelt. Aber jeden Moment dachte ich, das war es, gleich bin ich tot.

Irgendwann war es dann gar nicht mehr zu verleugnen, das er ein Alkoholproblem hat. Nur er wollte es wohl nicht wahrhaben. Es gab auch Gespräche zwischen meiner Mutter und meinem Vater darüber, von denen ich wohl nichts mitbekommen sollte. Es wurde einfach so getan, als ob nichts wäre. Aber ich habe mich nicht getraut, irgendwelche Freunde oder Schulkameraden mit nach Hause zu nehmen, weil dort die ganzen Flaschen rumstanden, oder es hätte ja sein können, das mein Vater wieder besoffen ist. Aber irgendwie hat meine Mutter es dann geschafft, meinen Vater zu einer Entziehungskur zu überreden. Auch der Arzt meines Vaters hat wohl auf meinen Vater eingeredet, das es so nicht weitergehen kann. Der Entschluss kam auf jeden Fall nicht von meinem Vater. Wahrscheinlich hat er es nur getan, um endlich seine Ruhe zu haben. Ich habe meinen Vater einmal währen dieser Zeit im Krankenhaus besucht und ihn nicht wieder erkannt. Er war total dünn geworden, lag die ganze Zeit nur auf dem Bett rum und hat immerzu gestöhnt, das er sterben will. Außerdem war er ja der Meinung, er gehöre nicht in diese Klinik, weil dort nur "Assis" währen, mit denen er nichts zu tun haben will. Mit den "Assis" meinte er wohl die anderen Leute, die dort einen Entzug gemacht haben. Ehrlich gesagt, ich hatte damals schon mehr Respekt vor diesen Leuten als vor meinem Vater.

Zu der Zeit des Entzuges hatte mein Vater damals schon leichte körperliche Schäden davongetragen. Er konnte nicht mehr so richtig laufen, da die Nerven in den Beinen durch den Alkoholkonsum schon ziemlich angegriffen waren, und er hat beim Sprechen immer gelallt, auch ohne Alkohol. Aus irgendeinem mir unbekanntem Grund wurde mein Vater dann auf einmal in eine Nervenklinik verlegt, wo man sich dann hauptsächlich um seine körperlichen Beschwerden gekümmert hat. Von Alkoholkrankheit plötzlich überhaupt keine Rede mehr.

Irgendwie hatte ich ja schon so eine böse Vorahnung, und mein Vater hat mich auch nicht "enttäuscht". Ich hätte nur nicht gedacht, das es so schnell gehen würde. Kaum war er aus der Klinik raus, kam er zu mir an und meinte doch seelenruhig zu mir, ich solle mal losgehen und ihm eine Flasche Wein holen! Ich dachte, ich muss mich verhört haben. Ausgerechnet zu mir kam er an und hat das von mir verlangt, ich war ja auch das schwächste Mitglied der Familie, die immer Angst vor ihm hatte und immer gekuscht hat. Wahrscheinlich hat er genau darauf gehofft. Ich bin ja heute der Meinung, er ist damals mit voller Absicht zu mir gekommen und hat von mir verlangt, ihm seinen Alkohol zu besorgen, damit er später die Schuld auf mich hätte schieben können, wenn er einen Rückfall erlitten hätte. So nach dem Motto, ich habe mir den Alkohol doch nicht besorgt, das war meine Tochter, sie ist schuld. Ich habe ihm damals seinen Alkohol nicht besorgt, und ich hatte ziemliche Angst vor der Reaktion meines Vaters, aber die Angst, für einen Rückfall meines Vaters verantwortlich zu sein, war größer. Das wollte ich auch meiner Mutter nicht antun, die sich so dafür eingesetzt hat, das mein Vater eine Entgiftung macht. Was hätte sie wohl zu mir gesagt, wenn ich gleich ein paar Tage nach der Entgiftung wieder Alkohol für meine Vater besorgt hätte? Letztendlich ist mein Vater damals merkwürdigerweise auch nicht losgegangen, um sich Alkohol zu beschaffen.

Irgendwann hat er dann auf einmal angefangen, auf einer Geburtstagsfeier Weinbrandbohnen zu essen. Er wusste doch, das da Alkohol drin ist!? Komisch nur, das mein Vater davor in seinem ganzen Leben so etwas nicht angerührt hat...Na ja es kam dann, wie es kommen musste – und von da an ging alles nur noch bergab. Irgendwann musste er seinen Job aufgeben, weil er in einer so schlechten körperlichen Verfassung war, das er einfach nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Er ist nicht arbeitslos geworden wegen des übermäßigen Alkoholkonsums, nein, er ist frühzeitig in Rente gegangen und hat noch eine schöne Abfindung von seiner Firma mit in den wohlverdienten Ruhestand bekommen. Da hat mein Vater wohl verdammtes Glück gehabt, oder war es einfach wieder nur einmal eine Verschleierungstaktik? Alles wurde sich passend zurechtgelegt, so konnte man es auch den anderen Leuten, Bekannten und Verwandten erklären. Das ist auf jeden Fall mein Gefühl.

Mein Vater war jedenfalls nie am Boden, nie ganz weit unten, hat nie irgendetwas ganz übles erlebt, was ihm vielleicht irgendwann einmal die Augen geöffnet hätte. Mein Vater wurde auch immer durch seine Familie aufgefangen. Er hat das immer alles als so selbstverständlich hingenommen. Ich kann mich nicht erinnern, das er sich jemals bedankt hat. Was er uns oder mir zugemutet hat und heute immer noch zumutet, geht für mich schon weit über die Grenzen hinaus. Damals bin ich z.B. jede Nacht aufgewacht, wenn mein Vater versucht hat, seinen Weg ins Bett zu finden. Dadurch, das er nicht mehr laufen konnte, ist er natürlich andauernd gegen irgendwelche Gegenstände und Möbel gefallen, hat alles mit sich heruntergerissen, und alles ist mit einem superlauten Gepoltere zu Boden gekracht. Danach immer absolute Stille. Und ich dachte immer, er liegt da irgendwo in unserer Wohnung in einer Blutlache und ist tot. Jede Nacht hatte ich solch eine Scheiß-Angst gehabt und mich nicht getraut, nachzusehen, aus Angst, vor dem Anblick, der mich da erwarten könnte. Und tagsüber nach der Schule bin ich immer losgegangen, und hab ihm seine Alkohol besorgt und gehofft, das mich niemand sieht. Ich habe mir immer gewünscht, so sein zu können wie die andern Kinder in meinem Alter, frei und unbeschwert. Aber ich habe ständig meine Angst und dieses blöde Familiengeheimnis mit mir herumgeschleppt.

Mittlerweile wohne ich schon lange nicht mehr bei meinen Eltern. Mein Vater ist ein totales Wrack, körperlich sowieso, und geistig? Manchmal denke ich, er kriegt gar nicht mehr mit, was eigentlich mit ihm los ist, sonst müsste er sich doch auf der Stelle umbringen. Laufen kann er inzwischen gar nicht mehr. Eine Zeit lang ist auch mal ein Krankengymnast gekommen, um mit ihm das Laufen zu üben, aber er hat es ja nicht einmal versucht .Er liegt die ganze Zeit nur auf dem Sofa rum, kann nicht mal mehr zur Toilette gehen. Also steht jetzt im Wohnzimmer so ein Toilettenstuhl, aber ich glaube, auch den benutzt er gar nicht immer. Essen kann mein Vater auch nicht mehr richtig, alles fällt ihm wieder aus dem Mund raus und liegt dann auf dem Teppich rum. Mittlerweile ist es bei mir soweit, das ich meinen Vater nicht mal mehr ankucken kann, denn was zuviel ist, ist zuviel. Ich weiß nicht, wie meine Eltern noch immer so tun können, als ob das alles normal wäre, für mich ist es jedenfalls unzumutbar und meine Schmerzgrenze ist längst ereicht. Ich möchte meinen Vater durch diesen Bericht nicht bloßstellen oder ihn anklagen. Ich möchte nur einmal erzählt haben, wie es mir während dieser Zeit ergangen ist.

Anja
 

 

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